hieß der erste Beitrag im letzten
TRIBÜNE-Heft vom März dieses Jahres, Untertitel „Zum Tode von
Johannes Rau“. Nun heißt es, erneut Abschied von einem Freund zu
nehmen, der auch Johannes Rau besonders eng verbunden war: Paul Spiegel.
Wir verschweigen es nicht: Zwei endgültige Abschiede binnen so kurzer
Zeit - das schmerzt. Die Nachricht kam zwar nicht wirklich überraschend,
weil wir wussten, dass Paul Spiegel in ein künstliches Koma versetzt
worden war. Aber wenn zur Gewissheit wird, was wir lange befürchtet
haben, dann kommt der Schmerz trotzdem und er kann überwältigen.
Dem wollen wir jedoch nicht nachgeben. Es wäre auch nicht in Pauls
Sinn gewesen. Seit er an der Spitze des Zentralrates der Juden in Deutschland
stand – immerhin seit sechs Jahren – hat er sich nie überwältigen
lassen. Nicht nach Anschlägen auf jüdische Einrichtungen und
Heime für Asylbewerber. Nicht nach zähen Verhandlungen und eindrucksvollen
Erfolgen wie dem Staatsvertrag mit dem Bund, durch den die jüdische
Gemeinschaft erstmals eine solide finanzielle Basis bekam. Spiegel konnte
Dank sagen, aber er konnte auch anklagen. Gedankt hat er Bundeskanzler
Gerhard Schröder 2003 nach Unterzeichnung des Staatsvertrages, angeklagt
hat er am 9. November 2000 in Berlin während einer öffentlichen
Gedenkstunde zur Erinnerung an die Reichspogromnacht vom 9. November 1938.
„Ist es deutsche Leitkultur, Fremde zu jagen, Synagogen anzuzünden,
Obdachlose zu töten?“ Leise treten, wenn Offensive geboten war – auch
das war Spiegels Sache nie, zumal dann, wenn es um den Holocaust und dessen
millionenfache Opfer ging. So geißelte er es zu Recht, Abtreibungen
mit dem Massenmord der Nazis gleichzusetzen. „Unsäglich und beleidigend“
sei das, schleuderte er dem Kölner Kardinal Joachim Meisner entgegen,
nachdem der das getan hatte. Dabei wollte er, dass das Judentum in Deutschland
und weltweit „nicht immer nur in Verbindung mit KZ und Gaskammern gesehen“
wird. Ein anderes Ziel formulierte er gern so. „Sagt ein Freund zum anderen:
‚Du, ich habe heute einen Juden gesprochen.’ Sagt der andere ‚Na und’?
Solche Begegnungen sollten nichts Besonderes mehr sein, wie Spiegel
überhaupt gern versuchte, mit Hilfe von Witzen etwas zu erklären.
Jüdische Essgewohnheiten zum Beispiel: Geht ein Jude zum Metzger,
zeigt auf einen saftigen Schinken und sagt: „Ich hätte gern ein Kilo
von diesem Fisch.“; antwortet der Metzger: „Das ist Schweinefleisch.“
Sagt der Jude „Ist mir egal, wie der Fisch heißt.“
Ausführlich hat Spiegel die Vielfalt
jüdischen Lebens in seinem Buch „Was ist koscher? – Jüdischer
Glaube - jüdisches Leben“ beschrieben, das bald nach seiner Wahl zum
Präsidenten des Zentralrates im Münchener Ullstein-Verlag erschienen
ist. „Locker, lehrreich, lesenswert“ hat TRIBÜNE das Buch damals in
einer Rezension genannt. Daran hat sich nichts geändert. Aber Spiegel
selbst hat sich während seiner Amtszeit verändert. Nach dem Tod
seines Vorgängers Ignaz Bubis sel. A. wurde er mit der knappen Mehrheit
von fünf zu drei Stimmen zum neuen obersten Repräsentanten der
damals gut 100.000 Juden in Deutschland gewählt.
Werden mir seine Schuhe zu groß sein,
hat er damals enge Freunde gefragt. Die aber kannten seinerzeit keine Antwort.
Bubis s. A. war schließlich ein Gigant, der zum Schluss resignierte,
und erklärte, er habe wohl nichts bewirkt. Das stimmte nicht, weil
Bubis die Ansprüche an sich selbst in unerreichbarer Höhe sah.
Spiegels Vorgänger hat viel erreicht, schon dadurch, dass er immer
zur Stelle war, wenn man ihn brauchte. Das hat ihn schließlich das
Leben gekostet. Spiegel ahnte wohl, dass es ihm ähnlich ergehen könnte,
wenn er das Amt des Zentralratspräsidenten ebenso ausübte.
Biographische Daten aus seinem Leben gehören
nicht in diesen „Abschied“. Die konnte man nach seinem Tod in einem Düsseldorfer
Krankenhaus am Morgen des 30. April 2006 überall lesen und hören.
Die Vielfalt der Stimmen überraschte nicht. Wenn ein Prominenter einen
runden Geburtstag feiert, einen Orden erhält, ein Buch geschrieben
hat oder stirbt, drängeln sich andere Prominente vor den Kameras und
Mikrophonen. Sie glauben, etwas sagen zu müssen. Manche hätten
sich einen Gefallen getan, wären sie schweigsam geblieben. Ob der
Bundespräsident gut beraten war, Spiegel einen „Patrioten“ zu nennen,
darf bezweifelt werden. Ein begeisterter, engagierter Europäer – das
war Spiegel gewiss. Seine bitteren Erfahrungen im Holocaust und mit der
deutschen Leitkultur sprechen nicht gerade für den Patrioten. Angela
Merkel kam der Realität deutlich näher. Auch sie konnte sich
die „beeindruckende Persönlichkeit“ nicht verkneifen, wobei Paul Spiegel
sich selbst gewiss nicht so gesehen hat. Die Bundeskanzlerin traf aber
bestimmt den Kern, als sie sagte: „Er mahnte, wo viele stumm blieben“ und
weiterformulierte, Spiegel habe sich „mit großer Leidenschaft und
all seiner Kraft für eine gute Zukunft der jüdischen Gemeinschaft
in Deutschland eingesetzt.“ Das hat er ohne jeden Zweifel getan. So intensiv,
dass er mit einer Gruppe Leibwächter nicht auskam. Er brauchte wegen
der schier unendlichen Termine zwei – ob unterwegs mit dem Auto, mit der
Bahn oder in der Luft. Das hat ihn mächtig gestört, weil sein
Privatleben darunter litt. Dabei wusste er selbstverständlich, dass
er bewacht, geschützt werden musste. Aber ist es normal, fragte er
manchmal im kleinen Kreis, wenn der Vertreter einer relativ kleinen religiösen
Gemeinschaft ständig unter Polizeischutz stehen muss. Sind das normale
Verhältnisse? Selbstverständlich nicht. Deshalb nennt sich die
jüdische Gemeinschaft hierzulande auch „Juden in Deutschland“ und
nicht „deutsche Juden“, wie der Westdeutsche Rundfunk in einem oberflächlichen
Nachruf am Abend des Todestages formuliert hat. Vielleicht, so hat Spiegel
mal gesagt, werden wir um das Jahr 2050 einen Zentralrat der deutschen
Juden haben. Bis dahin sei es aber noch ein weiter Weg.
Spiegel ging auf Menschen zu, war sich
nicht zu fein, wenn es darum ging, Brücken zu bauen, zu versöhnen.
Hier liegt einer der wichtigsten Gründe für die Freundschaft
mit dem Altbundespräsidenten, deren Wurzeln in Raus Zeit als Ministerpräsident
von Nordrhein-Westfalen liegen. Rau war schon krank, als Paul Spiegel vor
drei Jahren seinen 65. Geburtstag feierte und der Zentralrat ihm einen
Empfang in Berlin gab. Rau ließ es sich nicht nehmen, wenigstens
kurz hereinzuschauen. Da standen sie zusammen – die beiden Brückenbauer.
Vertieft in intensive Gespräche, bei denen sie niemand zu stören
wagte.
Nun müssen wir nach dem Verlust von
Johannes Rau auch von Paul Spiegel Abschied nehmen. Bei großen Veranstaltungen
mit vielen Gästen wie der Verleihung der Neuberger-Medaille im Herbst
2005 nahm er enge Freunde am Arm und führte sie vorbei am Wachpersonal
in die Synagoge in Düsseldorf. Bei der letzten Begegnung Ende 2005
antwortete er auf die Frage, ob er krank sei: „Nein. Wie kommst Du darauf.
Ich habe ein kleines Problem mit dem rechten Bein, aber das ist mit ein
paar Pillen leicht beherrschbar.“ War es nicht. Die Antwort freilich passte
zu Spiegel. Es geht nicht um mich, es geht um die Sache, um die Juden und
andere Minderheiten in Deutschland, um die Demokratie, um unser Land. Da
mussten Herzprobleme, Kreislaufbeschwerden, eine Blutkrebserkrankung zurückstehen.
Doch irgendwann stößt jeder Mensch an seine Grenzen. Spiegel
erreichte diese Grenze mit nur 68 Jahren. Viel zu früh, wie jetzt
viele sagen. Paul Spiegel hat sich um Deutschland verdient gemacht.
Otto R. Romberg |
Heiner Lichtenstein
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