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pdf file Titelbild Heft 204, 2012

Editorial

Amerika hat gewählt, und der alte Präsident ist der neue Präsident. Jetzt, wo Barack Obama die Wiederwahl gelungen ist, meint Tekla Szymanski, kann er drängende Probleme angehen, ohne sich ständig mit politischen Rücksichtnahmen zu plagen. Die USA-Korrespondentin der TRIBÜNE hat den Wahlkampf aufmerksam verfolgt und sieht ein »zutiefst gespaltenes« Land (s. »Notizen aus den USA«). Trotz seines Wahlsiegs werden die nächsten vier Jahre für Obama sicher kein Spaziergang. Neben den brennenden politischen Aufgaben – unter anderem Arbeitslosigkeit, Gesundheitssystem und Wirtschaftsentwicklung – erleben die USA seit 2008, dem Jahr der letzten Präsidentschaftswahl, einen »alarmierenden Anstieg von extrem patriotischen ›hate groups‹«. »Noch nie gab es so viele rechtsextreme, regierungsfeindliche Gruppierungen«, konstatiert Anton Maegerle und beleuchtet die Hauptvertreter der Anti-Obama-Hetze. Das Spektrum reicht dabei von der den Republikanern nahestehenden »Tea Party« über die offen rassistischen Vertreter der »White Supremacy« bis zu paramilitärischen Bürgermilizen, für die Gewalt ein selbstverständliches Mittel zur Durchsetzung ihrer von Neonationalsozialismus, Überlegenheitswahn, Militarismus und religiös verbrämtem Rassismus geprägten Ideologie ist (s. »Obama: Feindbild der Rechten«). Wahlentscheidend für die überwiegende Zahl der Amerikaner waren Analysen zufolge auch diesmal wieder innenpolitische Themen. Wie aber geht es weiter auf der außenpolitischen Bühne? Inwieweit kann und will die Weltmacht USA aktiv werden, um die Situation im Nahen Osten zu beeinflussen? Die jüngste Eskalation des palästinensisch-israelischen Verhältnisses kam für unseren Korrespondenten Ilan Hameiri leider zu spät, um noch in seinem »Israelischen Tagebuch« berücksichtigt zu werden. Dass die israelischen und amerikanischen Einschätzungen der Situation im Nahen Osten voneinander abweichen, zeigt mit Blick auf die iranischen Pläne zur Kerntechnik Stephan Grigat. Er nennt die USA einen »fragwürdigen Verbündeten« und kommt zu dem Fazit: »In der Auseinandersetzung mit dem iranischen Regime wird Israel weitestgehend im Stich gelassen« (s. »Ein fragwürdiger Verbündeter«). Die Kluft zwischen Israel und den USA auf politischer Ebene wäre in den Anfangszeiten des jüdischen Staates undenkbar gewesen. Sie geht jedoch einher mit einer zunehmenden Entfremdung auch der Juden beider Länder. Gunther Kühne verfolgt in seinem beziehungsreich »Der gestörte Dreiklang« betitelten Beitrag, wie sich im Gefolge der politischen Entwicklungen nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 die »tiefe Sympathie«, die Israel, die USA und das Judentum zunächst einte, mehr und mehr in eine »krisenhafte Entfremdung« verwandelte. Verstärkt seien es »auch liberale jüdische Kreise und Persönlichkeiten«, die deutliche Kritik übten. Kühne sieht daher – neben den Bedrohungen von außen – auch die Gefahr eines Zerfalls des jüdischen Volkes von innen heraus und nennt es »eine Tragödie«, wenn dieser »bereits wenige Jahrzehnte nach Wiedererlangung der Staatlichkeit einsetzte«. Vielleicht wäre es gerade jetzt hilfreich, den Blick auf einen der großen Denker des 19./20. Jahrhunderts zu richten: Martin Buber, der Humanist, der sich mit seinem breitgefächerten Tätigkeitsspektrum »den üblichen Etikettierungen entzog« und als »unbequemes Gewissen« Israels dort nicht nur Freunde fand. Aus Anlass seines 135. Geburtstags hat Ursula Homann auch Bubers von seiner humanistischen Grundeinstellung geprägtes Verhältnis zum Zionismus und zum jungen jüdischen Staat beleuchtet (s. »Das unbequeme Gewissen Israels«).

Deutschland ist zu Recht stolz auf seine Aufklärungsarbeit zu Holocaust und »Drittem Reich«. Trotz aller Anstrengungen sind Rechtsextremismus und Neonazismus aber auch heute noch ein Thema – die Morde des »Nationalsozialistischen Untergrunds« sind dabei nur die Spitze des Eisbergs. Einer »transgenerationalen Perspektive« darauf, was den historischen Nationalsozialismus mit dem aktuellen Neonazismus verbindet, folgt Jan Lohl in seinem Beitrag »Tabu und Heldenmythen«. Er sieht einen Zusammenhang zwischen dem Schweigen in vielen Familien darüber, was die Großeltern oder Eltern während des Krieges taten, und dem Aufbau von Identifikationsmustern für eine neu-rechte Gesinnung. Antisemitismus in der Bundesrepublik ist jedoch schon länger nicht mehr ein nur deutschen Traditionen folgendes gesellschaftliches Problem. Bei muslimischen Jugendlichen sind Stereotype über Juden verbreitet, die sich unter anderem aus religiösen Feindbildern und Verschwörungstheorien speisen, aber auch von Medien und Politik – beispielsweise der neoosmanischen Außenpolitik der Türkei – beeinflusst werden. Ahmad Mansour diskutiert Hintergründe des muslimischen Antisemitismus von Jugendlichen und zeigt Wege auf, wie das deutsche Bildungssystem diesem – oft ignorierten – Phänomen gegensteuern kann (s. »Der neue Antisemitismus«).

Liebe Leser, wenn Sie einen Blick auf das Inhaltsverzeichnis dieses Heftes geworfen haben, ist Ihnen vielleicht die große Anzahl von Rezensionen aufgefallen, die wir diesmal drucken. Das hat einen für die Redaktion leider traurigen Grund: Auch unsere TRIBÜNE ist von den allgemeinen Schwierigkeiten der Printmedien nicht verschont geblieben. Gerade Firmenfusionen haben in den letzten Jahren zu einem radikalen Einbruch in unserem Anzeigengeschäft geführt, der uns zwingt, mit dem Dezemberheft 2012, das Sie in den Händen halten, die Druckausgabe unserer Zeitschrift einzustellen. Diese Entscheidung ist uns nicht leicht gefallen, auch wenn wir uns damit in guter Gesellschaft befinden: Bei Redaktionsschluss stand die »Frankfurter Rundschau« vor dem Aus, während das Ende des traditionsreichen Wochenmagazins »Newsweek« zum 31. Dezember bereits beschlossene Sache ist.

Doch nach 51 Jahren journalistischer Arbeit gegen Intoleranz, Vorurteile und Ausgrenzung wollten wir TRIBÜNE nicht einfach von der Bildfläche verschwinden lassen. Im kommenden Jahr widmen wir uns der Digitalisierung aller 204 Ausgaben sowie der beiden Sach- und Autorenregister. Die Digitalisierung erfolgt inklusive aller veröffentlichten Anzeigen – ein Dank an unsere Inserenten, die das regelmäßige Erscheinen der Zeitschrift mit ihrem Engagement ermöglicht haben, denn Subventionen hat TRIBÜNE nie erhalten. Zugleich wollen wir mit der Beibehaltung der ursprünglichen Heftgestaltung auch dokumentieren, dass die Aufarbeitung der deutschen Geschichte nicht nur »von oben« kam, nicht nur eine Sache der Politik war (und ist), sondern sich auch die Wirtschaft via Anzeigen hinter unser Anliegen gestellt hat, Vorurteile abzubauen und mehr Toleranz zu wecken. Aus technischen und Kostengründen werden allerdings auch die Farbanzeigen in Schwarz-Weiß umgesetzt.

Mit unserer Arbeit haben wir nicht immer nur Zuspruch geerntet. Gerade in der Anfangszeit kam es sogar zu gerichtlichen Auseinandersetzungen, weil wir Ressentiments aufgedeckt und »Ross und Reiter genannt« haben. Ohne den Beistand von Persönlichkeiten wie Walter Hesselbach, Otto Brenner oder Ludwig Rosenberg hätten wir manche Attacke nicht abwehren können. In den 1960er Jahren gehörte es fast zum guten Ton, über das Fehlen von Vorbildern zu klagen. Deshalb war es uns ein besonderes Anliegen, unseren Lesern solche Vorbilder aus Wirtschaft und Politik zu präsentieren, aber immer überparteilich zu bleiben. Dennoch mussten wir erleben, dass der Kreis der bei uns vorgestellten Persönlichkeiten oft nicht auf Gegenliebe stieß. Jetzt bleibt uns nur noch, uns bei allen Autoren, Lesern, Abonnenten und Inserenten, die uns zum Teil jahrzehntelang die Treue gehalten haben, zu bedanken. Wir hoffen, dass Ihnen die digitalisierten Jahrgänge der TRIBÜNE den Abschied erleichtern und Ihr Interesse für deren Themen auch ohne unsere Zeitschrift erhalten werden. Denn der Kampf gegen Vorurteile, Hass und Ausgrenzung muss weitergehen.

Inhalt

Charlotte Oppermann Zerrbilder
 

Agenda

Otto R. Romberg
Alexander Felsenthal
Barbara von der Lühe
Johanna Holler
Alexander Frisch
Tekla Szymanski
Ilan Hameiri
Stephan Grigat
Peter Hoff-Burg
Stephen Tree
Susanne Urban
Roland Kaufhold
Uri Degania
L. Joseph Heid
Hans Riebsamen
Nina Dehos
Von »David« zu »Dieter«
Deutsches Kaleidoskop IV (2012)
Berliner Bühne IV (2012)
Rechts im Blick
Die Dekodierung der Geschichte
Notizen aus den USA IV (2012)
Israelisches Tagebuch IV (2012)
Ein fragwürdiger Verbündeter
Österreichisches Mosaik IV (2012)
Der ungarische Blick
Annäherung
»Ich bin angenagelt an dieses Land«
Objektiv, aber nicht neutral
Aus dem »Wilden Westen« ins Ruhrgebiet
Besa – Ein Ehrenkodex rettete Leben
Ausgestrahlt & Reflektiert IV (2012)
 
 

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Anton Maegerle
Gunther Kühne
Walter Schilling
Jan Lohl
Ahmad Mansour
Lutz Maeke
Ricarda Haase
Julius Berman
Katrin Diehl
Ursula Homann
Gabriel Berger
Wolf Scheller
David Deißner
Obama: Feindbild der Rechten
Der gestörte Dreiklang
Geopolitischer Wandel am Mittelmeer
Tabu und Heldenmythen
Der neue Antisemitismus
Arafats doppelte Deutschlandpolitik
»Kampf der Rassen«
Für ein Mindestmaß an Gerechtigkeit
Wien, Wien
Das unbequeme Gewissen Israels
Die Flucht der Überlebenden
Hitler und der Verlust des Geistigen
Kevin alleine schuld?

BÜCHER  mit Rezensionen von  Anja Schader, Peter Stiegnitz, Horst Dahlhaus, Andreas Disselnkötter, Angela Borgstedt, Klaus-Peter Friedrich, Dirk Farke, Stephan Grigat, Ricarda Haase, Ursula Homann, Roland Kaufhold, Herbert Koch, Matthias Küntzel, Tino Schlench, Susanne Urban, Werner Himmelmann

last update 13.01.2013